Portraits

Leonard Marx

Erika

Um ehrlich zu sein, kenne ich Erika nicht gut. Ich weiß nicht einmal, ob Erika wirklich Erika heißt. Jedenfalls hat sie rotgefärbte Haare, ist sehr dick und trägt eigentlich immer weite Blusen mit Tulpen drauf – in allen Farben hat sie die. Erika ist arbeitslos. Trotzdem geht sie fast jede Woche zum kleinen Friseurladen um die Ecke und lässt sich die Stufen schneiden oder nachfärben. Sie kann sich das eigentlich nicht leisten. Ich weiß nicht warum, aber ich kann Erika verstehen. Ich kann auch verstehen, warum sie jede Woche zum kleinen Kiosk um die Ecke geht und ihre Kreuze auf diesen gelben Scheinen setzt.

Die meisten Leute wählen immer die selben Zahlen. Das Geburtsdatum des Kindes, der Hochzeitstag. Erika tut das nicht. Jede Woche andere Zahlen – irgendwelche.
Erika kommt gerade so über die Runden. Freunde hat sie keine. Das liegt nicht daran, dass sie nicht nett ist. Das liegt daran, dass sie arbeitslos ist, zu viel Wert auf ihre Haare legt und kein Glück im Spiel hat. Vielleicht trinkt sie deshalb zu viel und sitzt zu lange vor dem Fernseher. Weil niemand da ist, der ihr sagt „Deine Haare sehen heute aber schön aus“. Stattdessen muss Erika manchmal hören, wie die anderen im Friseursalon über sie tuscheln. Ganz schnell schlägt ihr Herz dann, sie schaut hinunter auf ihre Tulpenbluse und fragt sich, ob das jemand sieht. Manchmal läuft dann auch eine Träne die Wange hinunter. Meine Kontaktlinsen sind schon wieder verrutscht, sagt sie dann so laut, dass es jeder hört. Erika trägt keine Kontaktlinsen.
Heute Abend werden die Glückszahlen gezogen. Sie sitzt vor dem Fernseher und wartet, bis die schlanke blonde Frau den Hebel umlegt und die Bälle ins Glasgefäß rollen. Erikas Herz schlägt wieder schneller, sie wird unruhig, tippt auf die Lehne ihres Sofas. Wenn man sie fragt, was sie denn mit dem ganzen Geld machen würde, weiß Erika keine Antwort. Vielleicht in den Urlaub, Spanien, denkt sie. Doch dann stellt sie sich den Flug vor, die Einheimischen, die sie nicht verstehen, und das leere Hotelzimmer. Nein, Urlaub, das kann sie nicht, zu lang her das ganze. Trotzdem ist da diese Aufregung. Erika schaltet den Ton aus und schließt die Augen, bis die Glückszahlen von heute Abend feststehen. Wie lange das dauert, weiß sie genau. Sie macht das, weil sie nicht tapfer genug ist – wenn etwas Spannendes passiert, kann Erika nämlich nicht hinsehen. Jetzt steht sie auf, dreht sich weg vom Fernseher und schaut aus dem Fenster. Mit der rechten Hand fühlt sie am Stoff der Gardinen. Dann setzt sie sich wieder aufs Sofa. Und während sie den linken Daumen so fest sie kann drückt, holt sie den gelben Zettel aus ihrer Tasche hervor. Erika schaut abwechselnd auf Fernseher und Schein, vergleicht die Zahlen. Hoffentlich sind Ihre dabei, sagt die blonde Frau. Erikas sind es nicht.

 
Sarah
Und jetzt saßen sie hier, auf Bierbänken, mit Bierkrügen, die größer waren als ihre Köpfe. Alles war so schön, dass es eigentlich schon wieder traurig sein musste. Links und rechts raschelten die Bäume und vor ihnen lag das Rapsfeld. So etwas Gelbes hatte sie noch nie gesehen. So war das wohl, auf dem Dorf. Man wartete das ganze Jahr auf den einen großen Tag. Das Volksfest. Sie stellte sich vor, wie die kleinen Jungs wohl stundenlang vor dem Spiegel standen und sich Gel in die Haare schmierten. Am Tag davor waren sie in der Stadt gewesen und hatten sich das schönste Hemd gekauft. Und jetzt waren sie hier. Und trauten sich nicht, zu den Mädchen rüberzugehen. Sie musste lächeln. Vielleicht hatte sie deshalb noch niemand angesprochen. Bis heute. Und jetzt saß sie hier mit den anderen auf der Bierbank und konnte ihr Glück kaum fassen.
Bald würde ihr Vater kommen, um sie abzuholen. Sie musste wieder in die Stadt, ein Kleid für die Konfirmation kaufen. Doch das machte sie nicht traurig. Vielmehr freute sie sich, das ganze Glück mit nach Hause zu tragen, das sie heute aufgesammelt hatte. Sie schaute auf ihr Handy und sagte den anderen, dass sie nun gehen müsse. Die waren natürlich entsetzt, jetzt schon? Es ist doch erst vier! Aber dann erklärte sie ihnen die Sache mit der Konfirmation und umarmte jeden zum Abschied.
Danach ging sie den Feldweg entlang zur Straße. Musik und Gegröle des Volksfests verloren sich hinter ihrem Rücken. Vater würde sie von der ganzen Sache nichts erzählen. Der würde sowieso nur Fragen, wie es gewesen war. „Gut“ sagen und lächeln. Aber komischerweise holte sie die Euphorie dann doch nochmal ein, als sie die Straße erreicht hatte und sich auf den Bürgersteig setzte. Eigentlich glaubte sie nicht an solch kitschige Dinge wie Schmetterlinge im Bauch. Trotzdem schlug ihr Herz schneller als sonst und irgendwo war da durchaus ein Kribbeln. Und weil sie nicht ruhig sitzenbleiben konnte, stieß sie sich mit beiden Händen vom Bordstein hoch und hüpfte auf die Straße. „Liebe macht blind“ sagt man, und obwohl sie auch daran nicht glaubte, haben die Leute recht damit. Aber dass Liebe außerdem taub macht, davon hatte sie wirklich noch nichts gehört. Doch auch das stimmt. Leider. Denn es lag wohl wirklich an der Liebe, dass sie nicht hörte, dass da ein Auto kam. Ein Auto, dessen Motorhaube so groß war wie sie selbst. Und dessen Reifen dreimal so groß waren wie ihr Kopf. Zu spät drehte sie sich um. Sie sah nur noch das Nummernschild. „S“ stand da. Das stand für „Sarah“.